Alles beginnt mit der Sehnsucht, auch die Suche nach und das Erfahren von Gott. Diese Erfahrung macht Friedhelm Fuest in seinem langen Leben und teilt sie mit uns im folgenden Beitrag:
„Alles beginnt mit der Sehnsucht.“
Dem Bistum Osnabrück gehen die Leute und das Geld aus. Dramatische Zeiten macht die Kirche durch - nicht nur bei uns, sondern deutschlandweit. Die meisten Gotteshäuser, die man in den Sechzigerjahren mit großem Enthusiasmus (nach dem II. Vat.) gebaut hatte, braucht man nicht mehr; denn viele von denen, die sonst unsere Kirchen gefüllt haben, sind gestorben oder alt geworden. Und die nachgewachsenen Generationen vermissen sie und die darin gefeierten Gottesdienste - bis auf eine Minderheit - nicht.
Nicht nur die Gottesdienstbesucherzahlen sind zurückgegangen (bei den deutschen Katholiken von 52 % im Jahr 1963 auf 8-9% heute), sondern auch die Zahl derer, die an Gott glauben. In einer aktuellen Umfrage der Zeitschrift „Spiegel“ sind es 55 %; 2005 lag der Anteil noch bei 66 %. Hätte die Spiegel-Umfrage nicht nur gelautet: „Glaubst du an Gott?“, sondern: „Glaubst du an einen personalen Gott, der sich in Jesus Christus den Menschen geoffenbart hat?“, wäre der Prozentsatz bestimmt noch geringer, vielleicht 10-20%, wenn überhaupt.
Für den rapiden Glaubensschwund und den rasanten Rückgang der Kirchen- und Gottesdienstbesuchenden - zwischen beiden besteht meiner Meinung nach nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein kausaler Zusammenhang - gibt es viele Ursachen. Bei den einen ist der Glaube einfach verdunstet. Ihnen geht es ähnlich wie dem Paar in Erich Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“ (leicht verändert): „Ihnen kam der Glaube abhanden, wie anderen Leuten ein Stock und ein Hut.“ Andere haben weder Gott, noch den Glauben an ihn kennengelernt, nicht zu Hause und nicht woanders. Und was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen und schon gar nicht weitergeben. Dann ist da noch die große Zahl derer, die mit dem „Bodenpersonal“ der Amtskirche und mit dem privaten und weltweiten Leid nicht zurechtkommen. Die Abbruchkante des Glaubens ist lang, sehr lang sogar!
Wer sich heute unter Freunden, Angehörigen oder Nachbarn zu Gott und vielleicht auch noch zu einem regelmäßigen Kirchen- und Gottesdienstbesuch bekennt, ist Außenseiter. Der Großteil hat sich in seiner persönlichen Welt eingerichtet. Viele von ihnen besitzen ausreichend Geld und Zeit und können sich dadurch von den wirklich wichtigen Lebensthemen („wer bin ich, woher komme ich, wo will ich hin?“), die - weitergedacht - vielleicht zu Gott führen, ablenken lassen. Sollte sich dennoch jemand für Gott interessieren und ihn suchen und fragen, wo man bei der Suche am besten beginnt, würde ich antworten: Zunächst beim Gefühl der Sehnsucht. Die Dichterin Nelly Sachs (1891-1970) hat dafür wunderbare Worte gefunden:
„Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Das ist des Menschen Größe und Sehnsucht nach Stille,
nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Fing nicht auch deine Menschwerdung,
Gott,
mit dieser Sehnsucht
nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht
damit anfangen,
dich zu suchen,
und lass uns damit enden,
dich gefunden zu haben.“
Wer keine Sehnsucht in sich spürt (sofern es das gibt), warum sollte der oder die sich auf den Weg machen und Gott suchen? Wenn es aber jemand trotzdem tut, aus welchem Grund auch immer, wo könnte er/sie - nach der Erfahrung der Sehnsucht - am besten andocken? Antwort: Bei sich selbst und seiner/ihrer Umgebung; denn Gott ist da, wo du bist, erfährt Mose am brennenden Dornbusch. Dort nennt Gott ihm und uns seinen Namen und sein Wesen: „Ich bin der, der ich da bin, wo du bist.“ (Übersetzung des Gottesnamen JAHWE nach M. Buber).
Alfred Delp SJ (geb. 1907), Widerstandskämpfer und am 2. Februar 1945 in der JVA, Berlin-Plötzensee von den Nazis ermordet, sagte es sehr schön so: „Gott umarmt uns mit der Wirklichkeit.“ Was er damit meint, erklärt er an anderer Stelle: „Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll! Aus allen Poren der Dinge quillt uns dies gleichsam entgegen. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen. Wir erleben sie nicht durch bis zu dem Punkt, an dem sie aus Gott hervorströmen.“
Was kann man konkret tun, damit man nicht „in den schönen und in den bösen Stunden hängen“ bleibt, sondern tiefer dringt, vielleicht bis zu dem Punkt, wo Gott aufscheint?
- Innehalten;
- Sich Zeit nehmen und zurückblicken („Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ S. Kierkegaard).
- Deuten.
Dazu braucht man meines Erachtens einiges an Lebenserfahrung (= gedeutetes Leben) und an Lebenswissen; denn die Dinge - die schönen und ebenso die bösen - kann man doppelt betrachten: als Faktum und als Geheimnis. Das heißt: Sie kommen uns vorder- und hintergründig entgegen. Wer aber beim Faktum bzw. beim Vordergründigen hängen bleibt, wird die Geheimnisse, die ihn/sie umgeben, nicht entdecken und nicht aufschlüsseln können. Auch das Geheimnis „Gott“ wird ihnen fremd bleiben (müssen). Das heißt nicht, dass man jemals vollkommen hinter dieses Gottesgeheimnis (Mysterium) schauen könnte. Gott ist immer größer! („Gott ist dasjenige, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“, Anselm von Canterbury).
Auch wenn es meiner Ansicht nach für „Gotteserfahrung“ (= gedeutetes Leben auf Gott hin) viel Lebenserfahrung braucht, ist nicht alles „Gott“, was die Menschen dafür halten („Gott sei Dank!“). Wer er ist (jetzt kommen die Bibel und die Kirche ins Spiel), hat er uns selbst geoffenbart durch Jesus Christus. Davon wissen wir aus der Bibel (1. und 2. Testament und den Briefen von Paulus u. a.) und von der Kirche; denn Christen glauben nicht irgendeinem Gott, sondern dem Jesus von Nazareth seinen Gott. (Jesus: „Ich und der Vater sind einer.“ Joh 10,30). Um ihn in meinem Alltagsglauben zu finden und zu erkennen, brauche ich das Wort Gottes (Bibel) und Mitglaubende mit ihren Gotteserfahrungen (Kirche). Allein zu glauben, geht genauso wenig, wie allein zu leben!
Im „Netzwerk Kirche“ lebe ich mittlerweile achtzig Jahre. Hier habe ich erfahren, dass der Gott Jesu Christi ein personaler Gott ist und nicht nur irgendetwas Höheres. Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass er mir geholfen hat und immer wieder neu hilft, das Geheimnis hinter den Fakten, das Hintergründige hinter dem Vordergründigen zu entdecken und zu erfahren. Häufig geschieht es erst in der Rückschau („Meist kommt man erst hinterher dahinter.“) und/oder zusammen mit Leuten, die wie ich auf Gottsuche sind („wer ist er, wo ist er, wie ist er?“) und die ihn immer wieder neu in Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus und dem Heiligen Geist in der Eucharistie feiern.
Friedhelm Fuest
Friedhelm Fuest ist Pfarrer im Ruhestand. Er wurde 1943 geboren und lebt derzeit, im südlichen Osnabrücker Land.
Nach seiner Priesterweihe am 24.6.1972 trat er zunächst eine Kaplanstelle in St. Michael in Papenburg an. 1976 wechselte er dann als Kaplan in die Kirchengemeinde Wallenhorst.
Seine erste Pfarrerstelle übernahm er 1982 in Twistringen, bevor er 1999 in die Pfarreiengemeinschaft Belm und Icker wechselte, wo er dann bis 2008 tätig war und seine aktive Dienstzeit beendete.
Weitere Beiträge von Gemeindemitgliedern und Anderen finden Sie auch auf dieser Homepage, auf der Seite Digitale Gemeinde unter der Rubrik „Blickwinkel – Beiträge von Gemeindemitgliedern und Anderen“.