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„Auge um Auge, Zahn um Zahn“

Elenore Reuter liest nicht uns, sondern mit uns die Leviten.
Auge um Auge, Zahn um Zahn! – eine Regel für Schadensersatzansprüche in der Bibel und keine alttestamentarische Aufforderung zur Rache, findet die Autorin.

Im Internet gibt es Tabellen, auf denen man nachschauen kann, wie viel Schmerzensgeld man nach einer Körperverletzung erwarten kann. Diese Tabellen basieren auf Gerichtsurteilen der vergangenen Jahre. Je nach Quelle sind die Angaben unterschiedlich präzise, aber immer wird darauf hingewiesen, dass es sich nur um Orientierungswerte handelt und jeder Fall individuell zu bewerten ist. Trotzdem: mich gruselt, wenn ich sehe, dass ein Auge oder ein Arm bezahlt werden soll wie ein kaputtes Auto. Für die betroffene Person ist das Augenlicht, der Arm unbezahlbar. Für den ganzen Rest ihres Lebens wird sie unter der Beeinträchtigung leiden. Da mag Schmerzensgeld ein Trost sein, ersetzen kann es den Verlust niemals.
Und doch sind die Tabellen, sind Schadensersatzleistungen, notwendig. Alle Urteile zu Schmerzensgeld im Fall von Körperverletzung sind von dem Bemühen bestimmt, einen angemessenen Schadensausgleich zu erzielen. Aber das geht immer nur im Bewusstsein, dass eine vollständige Kompensation nicht möglich ist.
Die Fragestellung selbst ist nicht erst in der Moderne aufgekommen. Schon das Alte Testament hat sich damit beschäftigt. Das Buch Levitikus schreibt vor: „Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen. Leben für Leben.“ Im Vers danach heißt es: „“Wenn jemand einen Mitbürger verletzt, soll man ihm antun, was er getan hat.“ (Lev 24,18-20) Das Prinzip ist vergleichbar unserem Bemühen um Schadensausgleich und gerechte Bestrafung. Auch damals war dem Geschädigten nicht damit geholfen, wenn der Täter den gleichen Schaden erleidet. Deshalb kann man den zweiten Vers ganz analog zum ersten Fall interpretieren. Der Verlust eines Nutztieres muss durch ein Nutztier kompensiert werden: Leben für Leben. D.h. der Schadensersatz muss dem angerichteten Schaden entsprechen. Analog gilt, dass im Falle der Körperverletzung angemessener Schadensersatz zu leisten ist. Das klingt ganz modern.
Allerdings konkretisiert der alttestamentliche Rechtssatz diese Grundregel an drei Beispielen: Im nächsten Satz heißt: Bruch für Bruch, Auge für Auge, Zahn für Zahn. Diese Formulierung ist berühmt berüchtigt. Immer wenn auf die angebliche Grausamkeit des Alten Testaments verwiesen werden soll, wird dieser Satz zitiert. Er ist zum Inbegriff für grausame Rachsucht geworden.

Dabei hat der Satz mehr mit Gerechtigkeit als mit Rache zu tun. Nicht grundsätzlich anders als in den Schadensersatztabellen der Versicherungen, soll festgelegt werden, dass dem Geschädigten Ersatz in Höhe des Schadens geleistet wird. Alles andere wäre ungerecht. Dass weder ein Geldbetrag noch die Verletzung des Täters den Schaden letztlich wieder gut macht, ist allen Beteiligten klar. Mit dem Gesetz soll die Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe gerade gegen eskalierende Gewalt wie bei der Blutrache festgelegt werden.
So wundert es nicht, dass kein einziger Fall einer körperlichen Auslegung des Gesetzes im Alten Testament, der hebräischen Bibel überliefert ist.
Die bekannteste Auslegung dieser Bibelstelle bietet die Bergpredigt Jesu:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Und ich sage euch, dass ihr dem Bösen keinen Widerstand leisten sollt, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem halte die andere auch hin. (Mt 5,38-39)

Die Bergpredigt ist ein Text, der einen idealen Maßstab an die Hand geben will: Idealerweise soll sich die Anhängerschaft Jesu nicht ausschließlich am Recht orientieren. Sie soll sich bewusst sein, dass jeder auf Gottes Vergebung angewiesen ist, die über das vom Recht bestimmte Maß hinausgeht.
Wenn ich auf die Tabellen der Versicherungen zurückkomme, frage ich mich, ob es gut wäre, in diesen Fällen die Bergpredigt anzuwenden. Keine Schadensersatzforderungen mehr bei Körperverletzung – das kann es nicht sein! Es muss also beides geben: Das Recht auf angemessenen Schadensausgleich und eine Bereitschaft zur Vergebung, unter Umständen sogar unter Verzicht auf zustehendes Recht. 

Prof.in Dr. Eleonore Reuter war bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand 2022 Professorin an der Katholischen Hochschule Mainz. Nach dem Studium der Theologie an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn promovierte sie 1992 und war von 2008 Professorin an der Katholischen Hochschule in Mainz. Seit 1997 / 98 wohnt und lebt sie in Icker.

Weitere Beiträge von Gemeindemitgliedern und Anderen, auch von Eleonore Reuter, finden Sie auch auf dieser Homepage, auf der Seite Digitale Gemeinde unter der Rubrik „Blickwinkel – Beiträge von Gemeindemitgliedern und Anderen“.