„Benötigen wir heute noch Kirchen? Und was wird aus der Kirche in Icker?“
Im Zuge des Kirchenjubiläums in Icker 2023 stellt Eleonore Reuter eine bedeutsame Frage: Brauchen wir heutzutage überhaupt noch Kirchengebäude? In ihrem Beitrag beleuchtet sie diese Frage und zeigt eine scheinbar einfache, dennoch hoffnungsvolle Antwort auf. Lesen Sie den Bericht von Frau Reiter:
Wozu braucht man Kirchen?
Wenn ein Gebäude ein „rundes“ Alter erreicht, stellt sich automatisch die Frage nach der Funktion und dem Zweck. Bei einer Kirche, die 100 Jahre alt wird, ist das nicht anders. Man könnte sagen, man braucht eine Kirche um Gottesdienst zu feiern. Aber ist das so?
Der christliche Gottesdienst ist der Dienst am Nächsten.
So steht es in der Bibel (z.B. Mt 25,31-46).
Punkt.
Also braucht man keine Kirche für den Gottesdienst! Aber so sehr es stimmt, dass Gott im Gesicht des Nächsten, besonders des notleidenden Nächsten begegnet, so sehr sind Menschen auf Orte und Zeiten angewiesen, um ihren Glauben zu reflektieren und zu feiern. Deshalb war das „Gotteshaus“ von 100 Jahren für die Leute in Icker ein wichtiges Anliegen. So wichtig, dass sie viel Geld und Arbeit geopfert haben, um die Kirche zu bauen.
Beim Wort Gottesdienst muss überlegt werden, wer hier wem dient:
Der Kern des Glaubens ist die Überzeugung, dass Gott sich den Menschen liebevoll zuwendet. Im Gottesdienst antworten die Menschen auf diese Erfahrung mit Gebet und Gesang, mit Lob, Dank und Bitte. Die Kirche ist der Raum, in dem die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit der Menschen sich begegnen. Die Gläubigen bringen ihr ganzes Leben, mit ihren Geschichten und Gefühlen mit. Communio/Kommunion ist Gemeinschaft der Glaubenden – horizontale Ebene – und Gemeinschaft mit Gott – vertikale Ebene. Damit dieses Geschehen den ganzen Menschen anspricht, sind alle Sinne mit Sehen (liturgische Farben), Hören (Musik), Riechen (Weihrauch) und Schmecken (Brot und Wein) beteiligt. Zeichen, Symbole, die Bibel und vieles mehr sollen dabei helfen, das Leben im Licht der Liebe Gottes wahrzunehmen. Wenn das gelingt, ist die Liturgie eine Orientierung und Stärkung, die Kirche ein „Rastplatz“ in der Rastlosigkeit des Alltags. Ja, beim Sanctus könnte eine Ahnung der Verbindung mit himmlischen Chören entstehen. Der Gottesdienst könnte sogar eine Art Vorgeschmack des himmlischen Festes sein, von dem Jesus erzählt.
Die Realität der Gottesdienste ist allerdings von der Idealgestalt oft weit entfernt. Die leer bleibenden Plätze in den Gottesdiensten und das Fehlen junger Menschen sprechen Bände. Die Sprache und Handlungen werden von vielen als lebensfern und überholt empfunden. Die Unterbrechung durch die Corona-Pandemie hat vollends deutlich gemacht, dass es ein einfaches „Weiter so!“ nicht geben kann. Auch gottesdienstliche Formen sind zeitgebunden und müssen immer wieder verändert werden, um aktuell zu bleiben. Die Liturgiereform vor fünfzig Jahren war eine solche tiefgreifende Veränderung. Vielleicht ist es mittlerweile wieder an der Zeit, auf die Suche nach zeitgemäßen Formen zu gehen.
Realistisch gesehen, wird nicht mehr lange jeden Sonntag in Icker Eucharistie gefeiert werden. Sogar die Frage des Musicals „Kirchenspuren“ von 2002, ob das Gebäude umgewidmet werden muss, weil der Unterhalt nicht mehr finanziert werden, ist realistischer, als viele wahr haben wollen. Was dann? Sicher, wer nach Belm zum Einkaufen fahren kann, kann auch in Belm oder Rulle Gottesdienst feiern. Aber was ist mit denen, die das nicht können? Geht nicht auch etwas verloren, wenn die alltägliche Lebensgemeinschaft keine Rolle für die Gottesdienstgemeinschaft mehr spielt?
Ein Blick zurück hilft, manche Dinge einzuordnen. Einerseits war über Jahrzehnte die tägliche Heilige Messe selbstverständlich. Gleichzeitig gab es aber auch zahlreiche andere Gottesdienstformen: Kreuzwegandachten, Maiandachten, Pfingstnovenen, Rosenkranzandachten, Bittprozessionen, Frühschichten, Abendlob, Kindergebetsfeier …
Diese vielen Formen entstanden als Antwort auf Bedürfnisse der Menschen. Sie könnten heute anregen, neue Formen zu suchen. Formen, die zu den Lebensthemen des 21. Jahrhunderts passen. Tricks, mit denen Leute animiert werden sollen, Gottesdienste zu besuchen, helfen nicht. Die Kirche wird nur dann wieder voll, wenn die Leute erfahren, dass ihr Leben in der Liturgie zur Sprache kommt. Solange Wandlung das Zentrum christlicher Gottesdienste ist und alle Beteiligten bereit sind, Liturgie so abzuwandeln, dass die Gläubigen ihre Anliegen darin wiederfinden, so lange bleibt die Icker Kirche ein heiliger Ort, an dem Gott und seine Menschenfreundlichkeit gefeiert wird.
Eleonore Reuter
Dieser Text findet sich in leicht abgewandelter Form in der Jubliäumsschrift „Ihr seid die lebendigen Steine - 100 Jahre Kirche Icker“. Wer mehr zur Entwicklung der Gemeinde und der Kirche zwischen 1923 und 2023 erfahren will, kann die Festschrift im Pfarrbüro zum Preis von 19,80 € kaufen.
Prof.in Dr. Eleonore Reuter war bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand 2022 Professorin an der Katholischen Hochschule Mainz. Nach dem Studium der Theologie an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn promovierte sie 1992 und war von 2008 Professorin an der Katholischen Hochschule in Mainz. Seit 1998 wohnt und lebt sie in Icker.